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Abschied vom analogen Ölzeitalter
Auf Zuruf kommt der Bus
13. Juni 2040, 07:30 Uhr.
Mit demonstrativer Langeweile bejaht Ben die mütterliche Frage, ob er auch an alles gedacht habe, und ruft in den Raum: „Einen Bus in die Schule!“ Der Zwölfjährige schultert im Flur seinen Rucksack, lässt die Haustür ins Schloss fallen und geht zur Straße. Mia, der sprachgesteuerte digitale Assistent in der Wohnung, hat Bens Wunsch gehört und samt aller benötigten Daten an das kommunale Nahverkehrsunternehmen weitergeleitet. Deshalb kommt zuverlässig nach nur anderthalb Minuten Wartezeit ein kleiner fahrerloser Bus und hält vor Ben. Die Türen öffnen sich und Ben begrüßt seine Klassenkameradin Emma. Während er noch gähnt, hat das Fahrgasterkennungssystem (FES) in der Tür Bens Gegenwart an der Chipkarte in seinem Portemonnaie erkannt. Damit kann das Unternehmen die Rechnungsdaten für Bens Familie aktualisieren.
Leise setzt sich der fahrerlose Bus in Bewegung, ordnet sich in den fließenden Verkehr ein und fährt die zwei Kilometer zum Goetheplatz, wo Emma und Ben in einen Linienbus einsteigen, der sie zusammen mit rund 50 anderen Passagieren, meist Schulkindern bis vor die Schule fährt. Er fährt fast autonom und ganz leise, weil er elektrisch angetrieben wird. Im Cockpit sitzt noch ein Fahrer. Der achtet darauf, dass unberechenbare Autofahrer im Stadtverkehr die Bus-Systeme nicht überfordern. Bald soll das anders werden, denn immer mehr Autos lassen nicht mehr zu, dass ihre Geschwindigkeit von den Fahrern bestimmt wird. Der jeweiligen Verkehrssituation angepasste Tempolimits werden über 5G-Netze an die Fahrzeuge weitergegeben, sodass sie deutlich sicherer unterwegs sind als früher. Ihre Fahrer können nicht schneller fahren, als die Künstliche Intelligenz es zulässt.
Dass der kleine Bus, der Emma und Ben von der heimischen Wohnung zum Goetheplatz brachte, keinen Fahrer hat, wundert die Kinder keineswegs. Viele Sensoren an den Fahrzeugen und in der Infrastruktur sowie eine zentrale dispositive Steuerung sorgen dafür, dass sie ihren Weg sicher finden und mit den ebenfalls autonom fahrenden Lieferfahrzeugen und Taxis störungsfrei kommunizieren. In den letzten Jahren wurde in dem Vorort der Pkw-Verkehr stark reduziert, so dass nur noch ganz wenige fahrergesteuerte Autos im Straßenbild zu sehen sind.
Das Buzzword „Autonomes Fahren“ bezeichnet vor allem die Entwicklung zu weitgehender bis vollständiger Übergabe der Herrschaft über Details der Fortbewegung vom Menschen an das Verkehrsmittel. Das geschieht in mehreren Stufen, deren erste bereits 2018 Realität waren: etwa mit Stau-, Abbiege- und Abstandsassistenten oder gar Autopiloten, die die Sicherheit beim Fahren erhöhen, indem sie den Fahrer von Routineaufgaben entlasten. In den höchsten Stufen „Hochautomatisiertes“ beziehungsweise „Vollautomatisiertes Fahren“ wird der Fahrer entbehrlich, weil das Fahrzeug so „smart“ ist, dass es selbst seine Sicherheit in nahezu jeder Verkehrssituation gewährleistet. Diese Stufen stellen aber auch eine Herausforderung in Fragen der Ethik und Haftung dar, weil es auch künftig noch Fußgänger oder Radfahrer geben wird, die die vollautomatischen Systeme berücksichtigen müssen. Ohne Fahrer wird das Geschäftsmodell Mobilität deutlich kostengünstiger, weil beim „Vollautomatisierten Fahren“ sowohl die Personalkosten drastisch sinken als auch die volkswirtschaftlichen Risiken der Mobilität, etwa Verkehrsunfälle, minimiert werden. Der herkömmliche PKW und das herkömmliche Taxi mit Fahrer gelten damit als Auslaufmodelle.
Künstliche Intelligenz bringt Sicherheit und begrenzt Risiken
Beim Um- und Aussteigen wurden Ben und Emma wiederum unmerklich vom FES registriert. Wenn ihre Eltern das wollen, kann das System sofort eine Meldung über die erfolgreich zurückgelegte Wegstrecke an Mia schicken. Mia könnte das im Wohnzimmer über ihren Lautsprecher kommunizieren oder auch nur einfach auf einem mobilen Endgerät registrieren, damit die Eltern sich keine Sorgen machen.
Auch hier ist das manuelle Fahren längst der Teilautomatisierung gewichen. Vorbei ist die Zeit, als ein Fahrer die Geschwindigkeit eines Autos willkürlich und ohne Rücksicht auf Umwelt und Umgebung bestimmen konnte, auch wenn er es nicht durfte1. Sensoren und Begrenzer sorgen dafür, dass die jeweils situationsadäquat von künstlicher Intelligenz ermittelten sicheren Geschwindigkeiten an jedem Platz des regulierten Straßenlandes automatisch von keinem Fahrzeug mehr überschritten werden können.
Fahrergesteuerte Autos werden hauptsächlich noch gebraucht, um individuelle Verbindungen mit dem ländlichen Raum aufrechtzuerhalten. Parken am Straßenrand ist seit einigen Jahren völlig abgeschafft, vor allem deshalb, weil es sich immer mehr durchsetzt, in sonnenbeschienenen Straßen Solarzellen in den Belag zu integrieren2. Sie sorgen dafür, dass die Ladestellen für die Busse buchstäblich auf gleicher Ebene Strom bekommen. So darf dort nur noch kurzzeitig gehalten werden, um Passagiere ein- und aussteigen zu lassen oder Waren anzuliefern oder abzuholen. Normalerweise sind die Autos in der Stadt auf quartiernahen Parkplätzen, in Tiefgaragen oder Parkhäusern abgestellt.
Energie direkt von der Straße
Die Busse sind dagegen Tag und Nacht unterwegs, wenn sie nicht gerade zum Nachladen eine kurze Pause einlegen müssen oder am ganz frühen Morgen keine Nachfrage besteht. Sie haben entweder eine eigene Fahrspur, in der neben Steuerungselementen auch die induktive Ladeinfrastruktur untergebracht ist, oder unbedingte Vorfahrt an allen Stellen, wo sie sich den Straßenraum mit dem Individualverkehr teilen.
Im großen Linienbus, der Ben und Emma vor der Schule absetzt, wurde inzwischen das Armaturenbrett abgeschafft. Theoretisch könnte auch er fahrerlos durch die Stadt kreuzen, aber auf den Durchgangsstraßen sind noch nicht alle Konfliktpunkte zwischen künstlicher Intelligenz und menschlicher Spontanität ausgeräumt. Statt mit Lenkrad und Pedalen greift der Fahrer notfalls mit Hilfe eines Tablet-Computers ins Geschehen ein. Navigation und Kontrolle der Steuerung ist dank des komfortablen Head-up-Displays in der Windschutzscheibe möglich.
Schnellbusse auf eigener Trasse
Bens Mutter Marion verlässt kurz nach ihrem Sohn das Haus. Sie nimmt das Fahrrad zum wenige Kilometer entfernten BRT-Terminal (Bus Rapid Transit). Dort wartet bereits ein mit der App zu bedienendes Schließfach, in dem sie ihr Rad diebstahlsicher und wettergeschützt verstauen kann. Vom Terminal aus bringt sie ein Schnellbus mit Hybrid-, Erdgas- oder dem inzwischen einigermaßen wirtschaftlichen Wasserstoffantrieb auf einer eigenen Trasse in die benachbarte Großstadt.
Bei BRT-Fahrzeugen hat sich Wasserstoff als Antriebsenergie für Fahrleistungen mit größeren Entfernungen bewährt, nachdem die Betankung deutlich vereinfacht wurde. Das System gilt als zukunftsweisend, weil es wesentlich preisgünstiger und schneller zu realisieren ist als eine Schienenbahn, deren Fahrzeuge darüber hinaus nicht so flexibel einsetzbar sind wie Busse. Diese fahren auf der Trasse automatisiert, können aber in weniger verdichteten und vernetzten Gebieten auch abseits der eigenen Spur von Fahrern gesteuert werden. Außerdem verkehren sie oft in Vororten, in denen noch eine größere Zahl unberechenbarer Individualfahrzeuge unterwegs ist.
Nachdem Marion mit dem BRT-Bus am zentralen Busterminal der Nachbarstadt angekommen ist, steigt sie wie jeden Tag in die U-Bahn und fährt zum Krankenhaus, wo sie als Stationsärztin arbeitet. Im Gegensatz zu früher lässt sie der ÖPNV auch im Schichtdienst nicht allein: BRT-Busse und U-Bahnen fahren die ganze Nacht hindurch. Die kleinen autonomen Busse kommen auch nachts auf Zuruf, wenn Marion wetterbedingt mal nicht mit dem Fahrrad unterwegs ist.
In der Mittagspause chattet Marion mit ihrem Mann Fabian. „Wollen wir heute Abend endlich mal wieder ins Kino gehen?“ - „Gute Idee!“ - „Da gibt es einen historischen Film, ein sogenanntes Road Movie, aus dem analogen Ölzeitalter. Wie umständlich es war, wenn man früher verreisen wollte. Aber er soll ein Happy End haben und wurde in den sozialen Medien nicht völlig verrissen.“ - „Ist bestimmt lustig. Das machen wir.“ - „Gut, ich organisiere das mal eben“, schließt Marion. Und bucht mit einer App zwei Kinokarten, reserviert im Restaurant und organisiert Ride Sharing für den Nachhauseweg. Zwar muss sie für Letzteres kein direktes Ticket buchen, das ist alles in ihrem ÖPNV-Abo enthalten und wird nach Bestpreis abgerechnet, aber es verringert die Wartezeit auf den Bus, wenn sie dem Betreiber signalisiert, dass sie am späten Abend noch einen Rufbus braucht. Früher nutzte man für solche Fahrten ein Verkehrsmittel, das Taxi genannt wurde. Es waren von Fahrern gesteuerte und mit fossilen Brennstoffen betriebene Analog-Autos für einen bis drei Fahrgäste. So etwas bestellen sich 2040 nur noch gut betuchte Nostalgie-Freaks, denn unwirtschaftlicher geht es kaum, erst recht, wenn Flächenverbrauch und Arbeitszeit-Äquivalent mit in die Berechnung einfließen.
Auf dem Land steuern noch Fahrer
Im weniger verdichteten Umland und in ländlichen Regionen mit schwieriger Topographie verkehren sogar noch reine Dieselbusse. Ihre Zahl nimmt allerdings rasant ab, weil sie mit mehr als zwölf Betriebsjahren die Grenze ihrer wirtschaftlichen Lebensdauer erreicht haben. Außerdem ist der Treibstoff wegen zahlreicher Umweltabgaben sehr teuer geworden und die Fahrt mit fossilen Energieträgern in geschlossenen Ortschaften streng reglementiert. Neuzulassungen solcher Fahrzeuge sind seit Anfang 2030 nicht mehr erlaubt.
Die Betreiber des ÖPNV auf dem Land und besonders in Gebirgsregionen, die sich ursprünglich vehement gegen die „Entdieselung“ gewehrt haben, ließen sich inzwischen dank verbesserter Technologie und regulatorischen Eingriffen von den Vorteilen alternativer Antriebsarten überzeugen. Auch die Hersteller haben mit einem ganzheitlichen Beratungsansatz viel zur Akzeptanz beigetragen: Gemeinsam mit den Kunden analysierten sie die Strecken, auf denen die Busse fahren und betrachteten die Kosten für Infrastruktur, Passagierzahlen, Standzeiten, Reichweite sowie die Verfügbarkeit von Ladeinfrastruktur und Ladestrategie3. Kein Wunder, dass sich Nostalgiker aus den Städten zu Sonderfahrten treffen, die von Dieselvereinen auf dem Land, vor allem in den Mittelgebirgen, mit historischen Bussen und anderen Fahrzeugen veranstaltet werden.
Mehrzweckfahrzeuge auf dem Vormarsch
Bens Großeltern Alexander und Friederike wohnen auf dem Dorf. Sie sind in letzter Zeit voll des Lobes über ihre neuen mobilen Möglichkeiten. Bei ihnen ist der Bus dank universeller Vernetzung mit Breitbandtechnologie zum universellen Transport- und Kommunikationsmittel geworden. Es hat gar nicht so lange gedauert, bis Alexander und Friederike dank speziell geschulter Digitalisierungsberater zu wahren Experten in Nutzung und Vernetzung von Apps, Smartphone, Computer und Serviceplattformen wurden.
Dazu hat auch ein Umdenken in der Regulierung, ebenso wie in Wirtschaft, Gewerkschaften und Industrie beigetragen: Im vergangenen Jahrzehnt wirkten Angebot, Nachfrage, umweltbedingte und gesellschaftliche Zwänge zusammen und führten auch auf dem Land zu einer Verkehrswende, einer umfassenden Kooperation der Stakeholder in Transport und Logistik. Die strikte Trennlinie zwischen Personen- und Güterverkehr in regionalen Straßennetzen wurde immer öfter überschritten, nachdem das Fahrgastaufkommen in den Bussen zu bestimmten Zeiten sehr schwach blieb, aber der Lieferverkehr immer stärker anwuchs. Online-Versandhändler schlossen mit Fahrzeugherstellern und lokalen Busunternehmen Kooperationsverträge, mit denen sie ihre Lieferfahrten drastisch reduzieren und die Auslastung der Busse drastisch erhöhen konnten.
So können und dürfen nun außerhalb der Stoß- und Schülertransportzeiten auch die Waren dieser Händler mitgenommen werden. Ein Teil der Buskabine wurde so gestaltet, dass er mit wenigen Handgriffen in ein Frachtabteil zu verwandeln ist. Eine Startup-App im Bus und im Tablet des Fahrers sorgt dafür, dass das Ordnen der Ware nach Auslieferungsstellen zu einem Kinderspiel wird, denn ohne Strich- oder QR-Code wird kein Paket mehr auf die Reise geschickt. Die Ware wird entweder an Packstationen oder gegen Aufpreis auch bis vor die Tür geliefert und dort entgegengenommen. Wenn der Empfänger nicht an einer Buslinie wohnt, übernehmen Paketroboter die “letzte Meile“.
Die Busse auf dem Land verkehren durchweg mit Fahrern. Alexander und Friederike lassen sich daher mit dem Bus nicht nur selbst ins Nachbardorf bringen, um im dortigen Restaurant ein leckeres Abendessen zu genießen. Sie erhalten aus dem Bus auch ihre beim Online-Händler, in der Apotheke vor Ort oder beim lokalen Gemüsehändler bestellten Waren.
Autos dank Vollvernetzung überflüssig
Tagsüber fährt im Dorf von Alexander und Friederike ein kleinerer Bus mit dem Rentner Otto Fricke als Fahrer, den sie schon lange kennen. Da ist auch immer mal Zeit für einen kleinen Plausch an der Haltestelle.
Wenn Alexander und Friederike weiter als bis ins Nachbardorf verreisen wollen, profitieren sie ebenfalls von der inzwischen flächendeckenden Vernetzung der Online-Dienste und des Verkehrs: Mit der App, die ihnen zeigt, wann und wohin ihre örtlichen Busse verkehren und den Kauf des passenden Tickets ermöglicht4, können sie theoretisch auch eine Weltreise buchen. Nach anfänglichem Zögern haben sich die meisten Verkehrsunternehmen auf eine Plattform geeinigt, die es ermöglicht, dort Reisen mit fast allen denkbaren Verkehrsmitteln zu buchen. Zuerst waren es große Verkehrsverbünde mit Bussen und Bahnen sowie die nationalen Bahnunternehmen, aber nach langem Zögern schlossen sich auch die Luftverkehrsgesellschaften dem System an, es folgten Mietwagen- und Hotelportale.
Auch im Bus selbst zogen neue Technologien ein, die das Reisen völlig neu definierten. Als die Staus auf den Straßen geringer wurden, weil der Verkehr geregelter verlief, stieg die Pünktlichkeitsquote im Fernbusverkehr. Das zog neue Kundenschichten an, die sich zunächst über die Planbarkeit der Reisezeiten freuten, aber bald mehr Komfort forderten und bereit waren, dafür höhere Preise zu zahlen.
Alexander und Friederike sitzen seitdem immer in der ersten Reihe des Fernbusses, wenn sie Kinder und Enkel in der Stadt besuchen. Der Busbetreiber hat ein Zwei-Klassen-System eingerichtet. Die Sitze der ersten Reihen sind seitdem barrierefrei zugänglich. Sie sind breiter, bieten zusätzliche Beinfreiheit und einen Monitor, der sich mit dem eigenen Digital-Assistenten verbinden lässt, aber auch ein businternes Unterhaltungs- und Informationssystem bereitstellt. Bevorzugte Behandlung beim Einsteigen und großzügige Gepäckbestimmungen kamen dazu. So stieg schon bald die Marge für die Unternehmen, weil sie es schafften, mit moderater Preisanpassung genau diese Sitze schnell vom Markt „aufsaugen“ zu lassen.
So freuen sich Alexander und Friederike schon auf den nächsten Besuch bei ihren Kindern und Enkeln. „Mit dem Auto in die Stadt? Kommt nicht in Frage.“
Fazit: Die Automatisierung und Vernetzung des öffentlichen Nahverkehrs kann viele Mobilitätsprobleme in der Stadt und auf dem Land einer Lösung näher bringen. Wahrscheinlich wird in den urbanen Zentren die Bedeutung des motorisierten Individualverkehrs abnehmen. Vielfach geht das aber nicht revolutionär, sondern schrittweise vor sich. Auf jeden Fall wird sie das tägliche Leben des mobilen Menschen, aber auch die Geschäftsmodelle von Betreibern und Bestellern nachhaltig verändern.
1 Viele Teile dieses Szenarios wurden entwickelt aus der Roland-Berger-Studie „Urbane Mobilität 2030“ (Zugriff Juli 2018)
https://www.rolandberger.com/de/Publications/pub_urban_mobility_2030.html
2 http://www.wattwaybycolas.com/en/
3 https://www.daimler.com/konzern/geschaeftsfelder/daimler-buses/
4 https://www.deutschland-mobil-2030.de/personenverkehr-2030-ein-drittel-mehr-bus-und-bahn.aspx